Sinnliches und Übersinnliches

In diesem Blog möchte ich demnächst Kurzgeschichten, abgeschlossene Geschichten oder Auszüge aus meinen Romanen vorstellen.

Mittwoch, 12. November 2014

Der Rabe, Teil 1

An diesem Tag hatte Sarah eigentlich gar nichts Besonderes vor. Sie lebte in einer ganz normalen Großstadt, bevor das alles anfing. Sie hatte die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Sie hätte auch studieren können, aber irgendwie fühlte sie den Drang in sich, das Leben kennen zu lernen, anstatt beim Lernen zu versauern. Na ja, das lernte sie ja dann auch kennen, vor allem die Tatsache, dass das Leben manchmal ganz eigene Wege gehen konnte.
Sie musste an diesem Tag eine Besorgung in der Innenstadt machen. Sie hätte eine andere Straße nehmen können, aber wie es der Zufall wollte, kam sie an einem kleinen, versteckt gelegenen Antiquitätengeschäft vorbei. Ihre eigene Wohnung war ja nicht gerade üppig mit Platz zum Zustellen versehen, aber Sarah schlendere dennoch gerne über Flohmärkte, wenn sie die Zeit dazu hatte, und sie konnte auch keinem Geschäft widerstehen, das einen Ausverkauf machte. Wenn sie die Auslagen wirklich interessieren. Und ein Antiquitätengeschäft war ja ein wenig so ähnlich, deswegen blieb sie vor dem Schaufenster stehen. Oft waren die ausgestellten Dinge in einem Geschäft dieser Art so teuer, dass sie unerschwinglich für ihren kleinen Geldbeutel waren. Bei diesem Geschäft war das anders. Da war eine kleine Spieluhr ausgestellt, die sie wunderschön fand, und sie war auch noch erschwinglich. Neben dieser einen gab es noch andere Spieluhren, und dazu noch viele andere kleine Dinge, die man nicht unbedingt brauchen konnte, die sie aber einfach schön fand. Deswegen entschloss sie sich, da hinein zu gehen.
Die Tür war schwergängig und hatte eine lustige kleine Melodie beim Öffnen, so etwas wie ein Glockenspiel. Und es roch sofort anders, so, wie es manchmal in Bibliotheken roch, nach Alter. Aber das war nicht unangenehm oder aufdringlich. Das Sonnenlicht schien sehr gedämpft hier herein, und es war viel kühler als draußen, wo die Sommersonne gnadenlos brannte. Das lud sie zum Stöbern ein. Erst kam auch niemand zu ihr, aber dann sprach sie plötzlich ein Mann von der Seite her an. Sie hatte ihn nicht kommen hören, deswegen zuckte sie zusammen und fuhr hoch. Er lächelte sie freundlich an. Sie sah erstaunt zu ihm auf, er war groß, jung und sah gut aus, hatte breite Schultern und glänzende, schwarze Haare. So jemanden hätte sie niemals in so einem Geschäft vermutet. Er hatte sie auch etwas gefragt, aber das hatte sie nicht verstanden.
„Hallo!“, antwortete sie ihm deswegen ziemlich überrascht. „Ich wollte mich eigentlich nur mal umsehen! Ihre Spieluhren im Schaufenster haben mir gefallen, ich weiß, dass solche Uhren schwer zu bekommen sind. Können Sie mir vielleicht die mit den Karussellpferden zeigen?“
*
Der Mann musterte die ihm fremde junge Frau beiläufig, während er ihr mit einer Handbewegung deutete, ihm zu folgen. Der Laden war vollgestopft mit alten Dingen, im hinteren Teil standen mehrere Regale voller Bücher, die meisten davon sorgfältig in Folien verpackt, Neben einem dieser Regale stand die alte Kasse auf einem gläsernen Tisch, unter dem eine Schublade mit Kästchen für Auslagen eingebaut war, die kleinen Schmuck enthielten, darunter waren noch mehrere andere Schubladen angeordnet. An der Wand hingen kleine Holzarbeiten und Anhänger. Eine gewundene Treppe führte im hinteren Teil in den zweiten Stock, dessen Tür allerdings geschlossen war, genauso wie eine andere Tür in der gegenüberliegenden Ecke.
Sarah sah dem Mann ihrerseits erstaunt nach, als er sich einfach herumdrehte und ihr wortlos bedeutete, ihm zu folgen. Der Laden erwies sich auch im hinteren Teil als vollgestellt, aber es war nichts zugestopft oder lag durcheinander. Viele der Bücher waren auffällig sorgsam geschützt und ließen auf einigen Wert schließen, auch die anderen Dinge waren eine nähere Betrachtung durchaus wert. Ein altes Haus, dachte sie, trotzdem war die enge Wendeltreppe ganz am Ende des Raumes irgendwie sehenswert.
Der Mann öffnete ein kleines Schränkchen, holte eine der verlangten Spieluhren hervor und setzte sie vorsichtig auf den Glastisch. Er ließ die Spieluhr erklingen, bevor er sich eine Zigarette aus einer Schachtel fingerte und diese anzündete. Seinen Kopf auf seine Hände gestützt sah er sie über den Glastisch herüber an. Seine Augen hatten eine tiefgrüne Farbe, und er hielt es wohl nicht für nötig, mehr zu sagen, als es unbedingt not tat, stattdessen musterte er sie ausgiebig, ohne sich die Mühe zu machen, das vor ihr  zu verbergen.
Sarah hingegen richtete ihre Aufmerksamkeit sofort ganz auf die kleine Spieluhr, die der Mann ihr da hingestellt hatte, denn sie spielte eine klassische Melodie. Sie wusste nicht, welche, aber das gefiel ihr ausgesprochen gut. Sie nahm die kleine Uhr vorsichtig in die Hand, die Pferdchen waren kunstvoll bemalt und geschnitzt. Diese Uhr würde sicherlich zu teuer für sie sein, aber sie fand sie einfach wunderschön.
*
„Die ist wunderschön!“, sagte sie leise und sah auf. Sie wich unwillkürlich etwas zurück, als sie dem geraden Blick des Fremden vor ihr begegnete, der seinen Kopf dabei entspannt auf seine Hand gestützt hatte. Das war kein Blick, den ein Verkäufer ihr normalerweise zugeworfen hätte. Sie sah ihn verunsichert an, in seinen Augen lag eine schwer fassbare Tiefe. Wieder stutzte sie, dann räusperte sie sich leise. „Wissen Sie vielleicht, wo die herkommt? Die sieht alt aus!“
*
Der Mann schmunzelte sichtlich in sich hinein, als er Sarahs Verunsicherung sah, erhob sich und nahm ihr die Uhr aus der Hand. Die Zigarette immer noch in einem Mundwinkel hängend musterte er die Uhr. Er drehte und wendete sie, betrachtete das Stück von allen Seiten, bevor er sie ihr wieder in die Hand gab. Er überlegte kurz, wobei er die Augen schloss und sich mit einem Finger an die Schläfe tippte. „London, England 1910.“
Seine Stimme klang klar, als er sie ansprach, dabei lässig an den Kassentisch gelehnt. Er war einfach gekleidet mit einem eng anliegenden Shirt und einer Jeans. „Gefällt sie Ihnen?“, fragte er sie und wartete keine Antwort ab, wendete sich schon wieder in eine andere Richtung ab. „Sie ist ein schönes Stück Handwerkskunst!“ Während er noch zu ihr sprach, ging er hinter den Tisch, öffnete eine der unteren Schubladen und zog ein schweres Glas hervor, zusammen mit einer Flasche Bourbon. Er goss sich ein und nahm einen Schluck. Und er wirkte wahrhaftig nicht, als würde er sich groß um ein Verkaufsgespräch mit ihr bemühen.
Sarah folgte dem Verkäufer mit den Augen, als er hinter den Tisch ging. Da war eine seltsame Diskrepanz in seinem Auftreten. Er hatte die Zigarette im Mundwinkel hängen, tippte sich so eigenartig gegen die Schläfe und sprach nur das Nötigste. Sie hätte ihn deswegen weitaus älter eingeschätzt, aber seine Körperhaltung strafte das Lügen. Trotz aller Lässigkeit war sein Körper straff und gespannt, als würde dieser Mann sich viel bewegen, und auch seine Stimme war klar und melodisch. Sie hatte Menschen schon etwas einschätzen gelernt, und dieser Mann war ihr nicht ganz geheuer. Als er auch noch das Glas und den Whiskey heraus holte und einen Schluck trank, wich sie wieder einen kleinen Schritt zurück. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber irgendwie fühlte sie sich nicht ganz sicher in Gegenwart dieses Mannes. Aber da war diese kleine Spieluhr, die sie noch in der Hand hielt, die war ein kleines Schmuckstück, so eine hatte sie schon immer haben wollen.
Sie lächelte ihn etwas zurückhaltend an. „Ja, die gefällt mir sehr!“, antwortete sie ihm ehrlich und leise. „Aber die ist so alt, die werde ich nicht bezahlen können.“ Sie sah bedauernd auf die feinen Schnitzereien, man konnte sehen, wie viel Mühe sich der Künstler damit gegeben hatte. Diese kleine Uhr war eindeutig liebevoll gearbeitet und nichts von der Stange.
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Er zuckte mit den Schultern, kam auf sie zu und umrundete sie einmal, sein Gang war nicht zu hören, beinahe tänzelnd, geschmeidig lautlos. Er schmunzelte wieder bei dem Gedanken, wie das wohl wirken mochte. „Nimm sie!“ Er legte seine Hand kurz auf ihre Hüfte und sog einmal den Duft ihres Haares ein. „Ich verkaufe sowieso nicht viele davon, dann schon eher Schmuck und Bücher.“ Und schon zog er sich zurück.
Sarah beobachtete ihn leicht stirnrunzelnd aus den Augenwinkeln, wie er lautlos einmal um sie herum ging, es war, als würde er sich anschleichen, sein Gang hatte etwas Elastisches, fast Raubtierhaftes, wie der Gang einer großen Raubkatze. Und er war auch genauso schnell, denn bevor sie etwas denken konnte, war er ihr sehr nahe gekommen, legte seine Hand einmal kurz auf ihre Hüfte und kam ihren Haaren mit seinem Gesicht sehr nahe.  Und bevor sie zusammenzucken konnte, war er auch schon wieder weg. Er war deutlich größer als sie, die Bewegung hätte normalerweise sehr unpassend gewirkt, aber bei ihm hatte sie ebenfalls die geschmeidige Eleganz eines Tieres oder auch eines Tänzers. Sie war völlig verdutzt, aber schon saß er wieder hinter seiner Kasse und zeigte dasselbe einsilbige Verhalten. Es war so schnell gegangen, dass sie sich nicht bedroht fühlen konnte. Sie musterte ihn deswegen jetzt genauso aufmerksam, wie seine Augen auf ihr ruhten. Sein Verhalten war so besonders, dass es ihr Interesse weckte. Vorsichtiges Interesse, denn es liefen ja weiß Gott wie viele Gestörte durch die Gegend hier.
*
„Ist sie denn für dich oder ein Geschenk?“, wollte er von ihr wissen. Er zündete sich erneut eine Zigarette an und setzte sich auf den Stuhl hinter seiner Kasse, die Schuhe auf den Tisch gelegt. Sein ganzes Verhalten spiegelte Desinteresse und Langeweile wieder, dennoch ließ er sie nicht aus den Augen und sein Blick wanderte an ihrer Gestalt hinauf und hinunter.
„Sie gefällt mir, ich wollte schon immer so eine haben“, antwortete sie ihm deswegen eher ungezwungen als misstrauisch. „Die würde ich niemals einfach so verschenken. Aber das kann ich nicht annehmen, die Spieluhr scheint mir kostbar zu sein.“ Es kam ihr nicht in den Sinn, ihm etwas vorzuheucheln, sie sagte einfach die Wahrheit. „Und bestimmt finden Sie für ein solches kleines Kunstwerk doch einen Käufer!“
*
Der Mann erhob sich und öffnete einen Schrank, holte eine zweite, fast baugleiche Spieluhr hervor. „Sollte die jemand haben wollen, habe ich hier noch eine“, er packte sie zurück. „Wenn du ein schlechtes Gewissen haben solltest, sie anzunehmen, bezahl sie ab, womit auch immer.“ Er zuckte erneut desinteressiert mit den Schultern. Aber mit seinem Blick fing er den ihren fest ein, als er sich wieder setzte und einen Zug seines Glimmstengels nahm.
Sie sah die zweite Spieluhr in seiner Hand an und ihm dann wieder in die Augen, sie war fast ein wenig ratlos. Er verhielt sich wie jemand, den das, was er gerade tat, überhaupt nicht interessierte, und trotzdem war er freundlich zu ihr. Eigentlich sollte sie das nicht annehmen, eigentlich tat niemand ihr so ohne weiteres etwas Gutes. Ihr erster Freund hatte ihr das eingebläut, so jung er auch gewesen war, da war er schon wesentlich gewiefter als sie gewesen. Trotzdem nickte sie langsam. Sie mochte das freundliche Angebot auch einfach nicht ablehnen, er hatte ihr ja überhaupt nichts getan. Und die Versuchung war groß.
„Wie könnte ich das denn abbezahlen?“, fragte sie leise und etwas unbehaglich.  „Wie teuer wäre sie denn?“
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„Ich brauche jemanden für den Laden!“, war seine ruhige Antwort. „Normalerweise öffne ich nie vor dem späten Nachmittag, ich bräuchte jemanden, der sich in den Stunden davor um ihn kümmert. Für... vielleicht ein paar Tage? Ich habe keine Ahnung, was sie kostet, vielleicht mehrere Hundert? Vielleicht mehrere Tausend, was immer deine Vorstellung vom Lohn für ein paar Tage ist.“ Wieder lächelte er in sich hinein. Sein Blick zog sich langsam an ihr herab, ihre Schenkel hinunter, an der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf, er blieb an ihren Brüsten hängen, während er sprach, und er machte sich nicht die Mühe, ihr dabei in die Augen zu schauen. Nebenbei goss er sich ein neues Glas ein und trank es in einem Zug.
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Dieser Blick konnte Sarah nicht mehr verborgen bleiben. Dieser Mann betrachtete sie einfach zu ungeniert, das war ihr nicht geheuer. Sie wollte die Spieluhr wirklich gerne haben, aber ihr Leben oder ihr Glück hingen ja nun nicht gerade davon ab. Sie rief sich energisch zur Ordnung, sie benahm sich wie ein Kind, das sich in etwas verguckt hatte. Als er sich auch noch ein neues Glas Whisky einschenkte und es in einem Zug leer trank, setzte sie die Spieldose vorsichtig vor ihn wieder auf den Glastisch. Sie sah über die Schulter in den strahlenden Sonnenschein. Ein ganz normaler Tag, eigentlich gab es nichts zu befürchten. Als sie sich wieder zu ihm zurück drehte, schien es um ihn herum ein wenig dunkler zu werden. Sie wollte heute in den Sonnenschein, sich mit ihrem Freund treffen und es sich gut gehen lassen nach der Krankenschule, danach zu Hause einen Film sehen, ganz gemütlich und für sich. Das war irgendwie verrückt hier. Sie sah ihm aber nur in die Augen, er hatte etwas an sich, das sie nicht genauer benennen konnte, trotz seines eigenartigen und jetzt ziemlich dreisten Verhaltens. Deswegen fand sie nicht sofort die richtigen Worte.
Er erhob sich und schritt ebenso schnell wie vorhin hinter sie, legte seine Hände vorsichtig auf ihre Schultern und sprach direkt zu ihr. „Hast du Interesse?“ Seine Stimme nahm einen neuen Klang an, sie war klar zu verstehen und klang dennoch eher wie ein Flüstern, als würde er ihr die Informationen zu hauchen.
Die Zigarette in der rechten von ihr abgewandt, zog er mit einer Fingerspitze seiner linken Hand den Weg ihres Rückgrats nach, von ihrem Steiß bis in ihren Nacken. Er blieb stehen, die Hände jetzt in die Hüfttaschen seiner Jeans gehängt und die Zigarette wieder im Mundwinkel, beließ es bei dieser einen unwillkommenen Berührung. Er wartete ab.
Sein Blick war auf sie gerichtet und er zog einen Mundwinkel nach oben, während er ihr Zeit ließ.
Sarah erstarrte, als er ihr die Hände von hinten auf die Schultern legte und ihr seine Frage zuflüsterte, obwohl er gut zu verstehen war. So, wie er sich verhielt, war das keine plumpe Anmache, die sie allgemein kannte und nicht mochte. Er pöbelte sie nicht an, er belästigte sie nicht. Nicht direkt. Aber es war deutlich, dass er an ihr Interesse zeigte. An ihr und nicht am Verkauf der Spieluhr. Überhaupt war ihr nicht wirklich klar, was er hier eigentlich genau trieb, etwas verkaufen wollte er ja wohl nicht wirklich, zumindest ihr nicht. Im Moment stand er sogar hinter ihr, sie drehte sich nicht direkt zu ihm um, sie wollte immer noch nicht unhöflich erscheinen. Dann tat sie es doch, und er stand mit beiden Händen in den Taschen da, in einer entspannten Haltung, und diesmal wartete er ganz offensichtlich auf ihre Antwort.
„An was genau sollte ich denn Interesse haben?“  Sie sah ihn direkt an. Sie hatte die Uhr abgestellt, und er stand jetzt zwischen ihr und der Ladentür, durch die die Sonne hereinschien, wenn auch nicht weit in den Laden selber.
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„An meinem Angebot, kümmere dich um den Laden, ein paar Stunden am Tag und ein paar Tage lang, dann gehört die Uhr dir. Es sei denn, du möchtest vielleicht noch etwas anderes haben.“ Er verschwand im hinteren Teil des Ladens, kam zurück und stand schon wieder hinter ihr. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und ließ sie dann an ihren Hals gleiten, den er mit den Fingerspitzen entlangfuhr. Aus seiner offenen Hand zauberte er eine kleine silberne Kette mit einer Rabenfigur an ihrem Ende hervor, die er ihr um den Hals legte. „Zum Beispiel Schmuck. Dieser hier steht dir.“
Er zog seine Hände zurück, ließ sie über ihren Nacken gleiten und stand dann in derselben Pose da wie schon zuvor.
Die Sonne warf kaum Licht in den Laden, das Fenster der Tür war nicht abgedunkelt, und dennoch schien die Sonne nur verschwommen herein. Es war angenehm kühl hier drinnen, und würde man die Zeit haben und auf die Idee kommen, nachzuschauen, würde man feststellen, dass alles in diesem Raum, obwohl es chaotisch wirkte, relativ sauber war.
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Ein Ruck ging durch Sarah. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen“, murmelte sie. Das hier war kein normales Verkaufsgespräch mehr, und ein normales Gespräch, das ein fremder Mann mit ihr anfangen würde, auch nicht. Dieser Mann verhielt sich immer eigenartiger. Es wurde ihr unangenehm, dass er sie einfach berührte, und auch, dass er ihr einfach ganz unverhohlen etwas schenkte. Er zeigte ihr nicht, was er überhaupt beabsichtigte, und dann musste er sich wirklich etwas anderes einfallen lassen, um ihr ehrliches Interesse zu wecken. Der Laden tat sein übriges, es war hier keineswegs dreckig oder muffig, aber alles lag wie in einem Zwielicht. Die Kühle war zwar angenehm, aber sie trug zu diesem Gesamteindruck noch bei. Sarah fummelte an dem Verschluss der Kette herum, bekam ihn aber nicht auf. Die Kette lag überraschend schwer und kühl auf ihrer Haut. „Können Sie mir den Verschluss bitte öffnen?“ Sie hob den Blick und sah dem Fremden wieder in die Augen.
Er zuckte mit den Schultern „Natürlich!“ Er trat hinter sie und entfernte die Kette, dabei hauchte er ihr etwas ins Ohr, von dem sie allerdings nicht wirklich verstehen konnte, was er gesagt hatte. Es war nur ein einziges Wort, es hätte „Traum“ heißen können, aber auch ganz etwas anderes. Dabei legte er ihr kurz das Kinn auf die Schulter und trat so nahe an sie heran, dass sie spüren konnte, wie er tief einatmete, wahrscheinlich ihren Duft.
„Solltest du es dir anders überlegen, ich bewahre die Spieluhr für dich auf.“ Er lächelte leise in sich hinein und verstaute die Uhr, danach verschwand er im hinteren Teil des Raumes.
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Sarah atmete erleichtert auf. Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass er sie nicht so einfach gehen lassen würde. Aber er öffnete anstandslos die Kette wieder, nahm sie an sich und verschwand einfach. Sie hatte gedacht, sie wäre schon im hinteren Teil des Ladenlokals, aber da ging es irgendwie immer noch weiter, denn er war plötzlich weg. Sarah verließ rasch den Laden, ohne sich noch einmal umzusehen.
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Sie vergaß den kleinen Laden recht schnell, denn ihr jetziger Freund wartete auf sie. Die Sonne schien, sie verbrachte einen sehr schönen Abend mit ihm und fuhr dann mit ihrer alten Schrottkiste nach Hause, in ihre Wohnung. Sie sah sich den Film an, wurde müde und ging schließlich ins Bett. Ihre Glieder wurden schwer und sie schlief ein. Aber sie träumte.
Der Mann aus dem Antiquitätengeschäft stand vor ihr. Sie erkannte ihn an seiner Haltung und seinem Gesicht sofort wieder, aber nicht an seiner Kleidung. Er winkte sie zu sich, sie trat in seine offenen Arme wie an einer Schur gezogen. Er zog sie an sich und es durchrann sie heiß, als er seinen Kopf an ihren Hals senkte und sie dorthin küsste, wo ihre Schlagader dicht unter ihrer Haut pulsierte. Sie warf sich unruhig hin und her, wachte immer wieder leicht auf, schlief dann aber weiter. Und der Traum war so unglaublich real. Solche unglaublichen Gefühle kannte sie nicht, wie er sie in ihr erweckte, als er sie in den Hals biss und dabei sehr intim streichelte.
Ein großer, lila-schwarz glänzender Rabe flatterte auf sie zu, und da erwachte sie mit einem kleinen Schrei.
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